Reporterin
Essen/Gelsenkirchen/Bottrop. Wilfried Fesselmann wurde als Elfjähriger von einem Geistlichen missbraucht. Jetzt klagt er gegen das Ruhrbistum. Ex-Pfarrer gibt Übergriffe zu.
Es ist 45 Jahre her, dass sie einander zuletzt gesehen haben. Vor dem Essener Landgericht begegnen sich am Freitagmorgen Wilfried Fesselmann aus Gelsenkirchen, der damals elf war. Und sein früherer Pfarrer, 77, der sich so nicht mehr nennen darf: weil er nicht nur den kleinen Wilfried, sondern wohl einer Vielzahl von Jungen sexuelle Gewalt antat. Fesselmann, 56, verklagt deshalb dessen früheren Arbeitgeber, das Ruhrbistum. Er will mehr Schmerzensgeld, und es deutet sich an, dass die Zivilrichter das ähnlich sehen.
Wilfried Fesselmann hat nicht geglaubt, dass der Zeuge wirklich kommt. Und wenn, dann wollte er ihn etwas fragen: „Warum hat er uns das angetan?“ Und ob es nicht „ein bisschen krank“ sei zu behaupten, man sei verliebt gewesen, „in einen Elfjährigen“! Aber dann sitzt er tatsächlich da auf dem Gerichtsflur, dieser kleine, mühsam gehende Mann mit Jeans und weißen Haaren, mitten zwischen den anderen Betroffenen, Journalisten, Kirchenmännern. „Sie haben mein Leben versaut!“, geht ihn ein Mann an. Fesselmann sagt nichts.
Er hat sich gefreut, „dass es losgeht“, war nicht einmal aufgeregt vor dem, was er einen „großen Tag“ nennt „Endlich sprechen die Anwälte. Ich habe lange genug gekämpft.“ Fesselmann sagt, er sei „bereit“, Freunde aus dem Betroffenheitskreis machen ihm Mut: „Der liebe Gott ist auf unserer Seite.“
Also erzählt er wieder, was geschah, vor dem Gerichtsgebäude, in die vielen Kameras und dann im Saal. Erzählt, wie der Kaplan ihn nach einer Jugendfreizeit zu sich nach Hause einlud, zu einem Fernsehabend mit „besonders artigen“ Kindern. Bloß war da kein anderes Kind, und um Fernsehen ging es nicht. Der Geistliche habe die Türen abgeschlossen, ihn mit Alkohol gefügig gemacht, beide ausgezogen.
Wilfried Fesselmann, der 30 Jahre verdrängt hatte, bis er Panikattacken bekam, berichtet, wie er rot wurde, schon weil er doch gar nicht aufgeklärt war. Wie es zum Oralverkehr kam und bestimmt zu etwas danach, an das er sich wegen des Alkohols nicht mehr erinnern könne. Am nächsten Morgen habe er einen Zettel vorgefunden: „Das bleibt unser Geheimnis.“ Der Junge von damals behielt es für sich, bis er glaubte, einen Freund warnen zu müssen: „Der macht Sex mit Kindern.“ Das Wort „Missbrauch“ gab es damals noch nicht, im Juni 1979.
Der 77-Jährige nennt es ebenfalls anders. „Ich weiß, dass ich sexuell übergriffig geworden bin“, sagt er, zusammengekauert auf dem Zeugenstuhl. Er ist hier nicht der Angeklagte, die Taten in Essen sind längst verjährt. Auch den Zivilprozess müsste es deshalb nicht mehr geben: Das Bistum selbst hat darauf verzichtet, die Verjährung geltend zu machen. Auch wenn die Juristen beantragen, die Klage abzuweisen: Es sei das gute Recht der Opfer zu klagen. Und es geht auch darum, wie Generalvikar Klaus Pfeffer vor dem Gerichtssaal sagt: „Dass einer der schlimmsten Täter in der Katholischen Kirche vor einem deutschen Gericht steht.“
Pfeffer zeigt sich nach drei Stunden „erschüttert“. Es sei einmal mehr deutlich geworden, dass es damals in der Kirche „überhaupt kein Bewusstsein für sexuelle Gewalt gegeben“ habe. Durch die Idealisierung von Geistlichen hätten diese die Möglichkeit bekommen, Kindern zu Opfern zu machen. „Umso wichtiger, dass wir das aufarbeiten.“ Nach der Verhandlung gesteht der Generalvikar als Vertreter des Bischofs, ihm sei „schlecht geworden“, in welcher Weise ein Täter das Geschehene „bagatellisiert“.
Ex-Pfarrer H. nämlich erinnert sich an nicht viel. Nacktheit im Bett gibt er zu, sagt aber, der Junge sei „nicht bereit“ gewesen. Es habe auch andere Taten in seinem Leben gegeben, „fünf, sechs oder sieben“ habe er ja auch eingeräumt. „Aber es waren weitaus mehr Anschuldigungen.“ Zu Vergewaltigungen indes sei es nie gekommen. „Ich habe mir den Kopf zerbrochen, aber an weitere Dinge kann ich mich nicht erinnern.“
Er werde „bestimmter Vorfälle geziehen“, formuliert der Zeuge gespreizt. Die Jungen hätten sich durch seine Einladungen womöglich „geschmeichelt gefühlt“. Dass er tatsächlich „Beschämendes anrichtete: Das war mir nicht genügend bekannt“. Wohl aber, dass ihm Strafe drohte: „Im staatlichen Recht war das verboten, das war mir schon klar.“ Nach dem kirchlichen fragt ihn niemand.
Von Entschuldigung will der Mann nicht reden, aber immerhin so viel: „Ich möchte sagen, dass ich das getan habe. Das tut mir leid.“ Wegen der Folgen, „die das für ihn hat“, aber auch wegen der „Folgen für meine Kirche, für ihr Renommee und ihre Glaubwürdigkeit“. Dass er zu Beginn der 80er-Jahre aus Essen nach München versetzt wurde, habe wohl mit seiner „Neigung zu Pädophilie“ zu tun gehabt. „Mir war klar, dass ich mich schuldig gemacht hatte“, deutlich zum Ausdruck gekommen sei das durch seinen Arbeitgeber aber nie.
Auch die verordnete Therapie habe nicht geholfen: Zwölf Jahre habe die gedauert, war aber „nicht das, was ich mir davon versprochen habe“. Tatsächlich wurde dem Priester 2010 die Ausübung kirchlicher Dienste verboten. 2022 wurde er in den Laienstand zurückversetzt, wodurch er seine Altersbezüge verlor.
Laut Ruhrbistum soll der Mann in den 70ern in Bottrop und Essen Kinder missbraucht haben, insgesamt sind in NRW und Bayern mindestens 28 Opfer bekannt. In Süddeutschland läuft derzeit ein weiterer Missbrauchsprozess. Dieser hatte Schlagzeilen gemacht, weil unter den Beklagten ursprünglich auch der 2022 gestorbene Papst Benedikt XVI. (Kardinal Ratzinger) war.
Daran, dass alles aufflog, hatte Wilfried Fesselmann wohl seinen Anteil. Als er im Rahmen einer Psychotherapie seinen Peiniger suchte, entdeckte er ihn 2008 auf Fotos im Kreise von Jugendlichen. Und schrieb ihm Mails, die der Priester als „bedrohlich“ empfand. Er zeigte sein Opfer an, man warf Fesselmann Erpressung vor. „Ich habe ihn gestoppt“, sagt er selbst gern. Spätestens seit 2010 erschütterte der Missbrauchs-Skandal die Katholische Kirche, seither traute sich der Gelsenkirchener immer lauter an die Öffentlichkeit.
Vor Gericht macht er nun seine gesundheitlichen Einschränkungen geltend: eine posttraumatische Belastungsstörung, Flashbacks, Schlafstörungen, Alkoholprobleme, Migräne- und Panikattacken. 24 Jahre sei er deshalb arbeitslos gewesen, bis heute könne der dreifache Vater nur zu Hause arbeiten, „in meinem sicheren Raum“. „Es geht heute um mein Leben“, sagt Fesselmann.
Was aber ist das wert? Wie viel Entschädigung ist angemessen für eine folgenreiche Nacht vor 45 Jahren? Fesselmann selbst will ein „angemessenes Schmerzensgeld“ nicht unter 300.000 Euro. Von der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche hat er bereits 35.000 Euro erhalten. Diese Summe werde seinem Leid aber nicht gerecht, sagt der gelernte Bürokaufmann. Seinen Vermögensschaden beziffert er auf insgesamt 780.000 Euro.
Mit so viel Geld aber wird er in Essen nicht rechnen können. Zwar hat das Kölner Landgericht einem anderen Kläger, der als Messdiener missbraucht worden war, vor zwei Jahren 300.000 Euro zugebilligt. Doch sei auch sein Fall „einzuordnen“, sagt am Freitag der Vorsitzende Richter der 16. Zivilkammer, Roland Wissel. „Und das fällt schwer.“ Aus der Rechtsprechung zählt Wissel meist fünfstellige Schmerzensgeld-Summen auf, für Sexualdelikte mit schweren körperlichen und seelischen Folgen.
Anzunehmen, das weiß auch Wilfried Fesselmann, dass Geld in der geforderten Höhe wohl nicht fließen wird. Aber immerhin: Das Gericht betont, dass es eine Amtshaftung des Bistums für die Taten seines Priesters sehr wohl sieht. „Es geht um die Gerechtigkeit“, sagt der Kläger deshalb am Mittag gelassen. Auch wenn er bis zum Urteil noch drei Wochen warten muss: „Es ist eine Befreiung.“
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