Gelsenkirchen: Theaterstück zum Auschwitzprozess erschüttert – WAZ News


Redakteur Lokal
Gelsenkirchen. „Die Ermittlung“ in Gelsenkirchen: So erschüttert und aufgewühlt reagierte das Premieren-Publikum auf das Theaterstück zum Auschwitzprozess.
Im Umgang mit Lob sollte ein professioneller Kritiker stets ein wenig sparsamer umgehen: Doch die Inszenierung des Stücks „Die Ermittlung“ des Gelsenkirchener Trias-Theaters ist nicht weniger als ein Ereignis der Extraklasse. Weil es seine Betrachter auf emotionaler Ebene nicht bloß packt, sondern weil es erschüttert, durchschüttelt, aufrüttelt, durch Mark und Bein geht. Die Premiere am Samstagabend im Justizzentrum Ückendorf ließ ein sichtlich angefasstes Publikum zurück, das dem herausragenden Ensemble am Ende von zwei intensiven, herzergreifenden Stunden mit stehenden Ovationen dankte.
Der donnernde Applaus, er wirkte fast wie ein Ventil für die rund 60 Besucherinnen und Besucher, die den Strafgerichtssaal als größten Raum des Justizzentrums bis auf den letzten Platz füllten. Denn so konnten sie dem Gefühls-Chaos, das diese Aufführung im eigenen Innenleben angerichtet hatte, zumindest ein Stück weit Luft machen. Die expliziten Schilderungen des Grauens von Überlebenden eines Konzentrationslagers, die den Kern des Stückes bilden, sie sorgten nicht nur für manchen Kloß im Hals. Nein, diese Worte schnürten manchmal sogar die Kehlen der Lauschenden zu.
Geschrieben wurden sie von Peter Weiss. Der Autor und Dramatiker hatte den ersten Auschwitzprozess, der zwischen 1963 und 1965 vor dem Landgericht Frankfurt am Main stattfand, als Berichterstatter begleitet. Und weil auch ihn diese 183 Prozesstage im Anschluss innerlich nicht mehr loslassen wollten, formte er aus seinen Mitschriften und den Protokollen ein Theaterstück: „Die Ermittlung“. Dieses wurde am 19. Oktober 1965 uraufgeführt – und dauert in seiner Originalfassung vier Stunden.
Regisseur Jens Dornheim und Ulrich Penquitt, Chef und Gründer des Trias-Theaters, waren aber klug genug, diesen Text-Koloss für ihre Inszenierung zu straffen. Und auf zwei Stunden zu halbieren. Diese Kürzung verstümmelt den Stoff erfreulicherweise nicht, sie komprimiert ihn stattdessen auf ein auszuhaltendes Maß.
Denn es ist schon ganz schön starker Tobak, den Ausführungen der Zeugen da lauschen zu müssen. Ja, Zeugen! Denn dieses Stück ist als Gerichtsverhandlung konzipiert. Und die Entscheidung der Macher, einen echten Gerichtsaal als Bühne zu nutzen, erweist sich als absoluter Glücksgriff. Und so treten sie nach und nach herein, die namenlos bleibenden Zeugen. Allesamt gekleidet in beigefarbenen Overalls. Dieser Einheits-Dress wirkt so uniform wie einst die Lager-Kleidung der Häftlinge – und ist ein wichtiger Baustein für diese beklemmend-authentische Atmosphäre, die im Raum schwebt.
Den Tätern von einst, denen jetzt der Prozess gemacht wird, hat Kostümbildnerin Angela Heid-Schilling hingegen weiße Overalls auf den Leib geschneidert. Die Strategie der Angeklagten und ihres Verteidigers wird schnell deutlich: Sie leugnen, relativieren, beschimpfen die Zeugen oder berufen sich auf Gedächtnislücken, wenn sie nach der nächsten Schilderung begangener Gräueltaten vom Richter um eine Stellungnahme gebeten werden. „Ich habe nur getan, was ich tun musste“, „Befehle mussten ausgeführt werden“ oder „Uns wurde das Denken abgenommen“ – so rechtfertigen sich die Männer, die in Uniform oder Arztkittel teils tausendfach mordeten.
Das Stück trägt den Beinamen „Ein Oratorium in elf Gesängen“. Doch in diesen elf Kapiteln werden keine Klagelieder angestimmt. Sondern Erlebtes geschildert. Mal sachlich nüchtern. Mal traumatisiert oder voller Entsetzen. Sätze wie „Normal war, dass zu allen Seiten gestorben wurde – und normal war das Absterben der eigenen Empfindungen“ treffen die Gemüter der Zuschauer wie Hiebe mit einem Vorschlaghammer. Die gesamte Darstellenden-Riege der Zeugen erfüllt ihren Auftrag derart glaubhaft, dass sich im Publikum schnell das Gefühl breitmacht, nicht in einem Theaterstück zu sitzen, sondern einer realen Gerichtsverhandlung beizuwohnen.
Wahrlich faszinierend ist, dass dieses Stück trotz seiner absolut statischen Anordnung, die sich in den gesamten zwei Stunden nur um Nuancen verändert, eine kaum für möglich gehaltene Dynamik entwickelt. Das ist der Stärke der Monologe und Dialoge zu verdanken, die Weiss da einst zu Papier gebracht hat und die auch 60 Jahre nach ihrer Niederschrift nicht einen Hauch ihrer immensen Kraft eingebüßt haben.
Zart besaitete Zeitgenossen sollten diese Aufführung hingegen meiden. Denn die Schilderungen von Folter in einer Erstickungszelle, dem willkürlichen Erschießen und Erschlagen im Lager-Alltag sowie vom Einsatz des Giftgases Zyklon B beim organisierten Massenmord und der anschließenden Verbrennung der Leichen in den Brennöfen, all das erzeugt Bilder im Kopf, die dort haften bleiben. Und sich nicht so schnell wieder ausradieren lassen.
Doch genau das ist das große Verdienst dieses Stückes: Es zeigt, wohin Rassen-Wahn, Faschismus, ein Diktatur-Regime und eine radikalisierte Gesellschaft führen können – nämlich geradewegs hin zum Total-Verlust aller Menschlichkeit. Und damit direkt hinein in den Abgrund. Deshalb ist dieser Theater-Abend so zeitlos. Und so wichtig. Genau deshalb sollte ihn jede und jeder mit eigenen Augen gesehen haben…
Bislang sind vier weitere Aufführungen für die Öffentlichkeit terminiert. Laut Theater-Chef Ulrich Penquitt sind aber lediglich Restkarten für die Vorstellungen am 31. Oktober sowie am 9., 17. und 29. November erhältlich. Weil die Nachfrage ungebrochen hoch ist, steht bereits fest, dass es im kommenden Jahr weitere Spieltermine geben wird. Interessenten sollen sich schon jetzt per E-Mail melden an info@triastheater.de. Karten kosten im Vorverkauf 15 Euro.
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Um auch ein junges Publikum zu erreichen, wird es zusätzlich sechs Schul-Vorstellungen geben – am 7., 8., 14., 15., 21. und 22. November. Diese Fassung dauert 100 Minuten. Teilnahme: kostenlos. Anmeldung für Schulen: 0209 169 85 51.
Das Stück ist Teil der Veranstaltungsreihe „Auschwitz vor Gericht“, die das Trias-Theater gemeinsam mit dem Amtsgericht Gelsenkirchen und dem Institut für Stadtgeschichte organisiert.
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