Jugendamt am Limit: Im TV dreht sich alles um Gelsenkirchen – WAZ News


Stellv. Red.-Leiter
Gelsenkirchen. Die ARD-Story „Jugendämter in Not – Kinder in Gefahr?“ wurde größtenteils in Gelsenkirchen gedreht. Sie offenbart Überraschendes. 4 Erkenntnisse.
Wie belastend die Situation im Jugendamt ist, hat die WAZ Gelsenkirchen in den vergangenen Monaten und Jahren mehrmals dokumentiert. Man könne seinen Auftrag wegen des enormen Personalmangels nicht mehr erfüllen, stehe den explodierenden Fallzahlen hilflos gegenüber, sehe den Kinderschutz in Gefahr: Das teilten überlastete Beschäftigte des Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) mehrfach eindrücklich mit. Die vom WDR produzierte ARD-Story „Jugendämter in Not – Kinder in Gefahr?“ bestätigt nun die dramatische Lage und gibt weitere Einblicke in den schwierigen Alltag der Behörde. Für die Dokumentation wurde das Team des Gelsenkirchener Jugendamtes über einen langen Zeitraum begleitet. Diese vier wichtigen Beobachtungen lassen sich in dem knapp 45-minütigen Film (abrufbar in der ARD-Mediathek) aus Gelsenkirchener Sicht machen.
Im Mittelpunkt der ARD-Story steht die 28-jährige Sozialarbeiterin Sophie Schöttler. Ihre Aufgabe ist es, herauszufinden, ob Kinder in Gefahr sind. Sie wird auch bei einem Einsatz in einer jungen Familie gezeigt. Der Hausbesuch ist notwendig, weil bei dem Neugeborenen der Familie ein Schlüsselbeinbruch festgestellt wurde. Schöttler soll herausfinden, ob seitens der Eltern Gewalt angewandt wurde. Die Mutter zeigt sich vor Ort völlig ahnungslos. Sie habe überhaupt keine Ahnung, wie das mit der Fraktur passiert sei.
Der Film zeigt: Wenn Eltern so spärlich mit Informationen sind, ist es für ASD-Beschäftigte wie Sophie Schöttler besonders schwierig, die Gefährdungseinschätzung abzugeben. Skeptisch macht sie, dass der Säugling bei keinem Kinderarzt bekannt ist. Die Sozialarbeiter müssen in solchen Fällen Detektivarbeit leisten und „Puzzleteile“ zusammensetzen. Nach einem Gespräch mit ihren Kolleginnen kommt Schöttler zu dem Entschluss, eine Gefährdung festzustellen. Damit können weitere Maßnahmen eingeleitet werden, beispielsweise Erziehungshilfen beantragt werden.
Am Ende des Films wird offenbart, dass die Mutter des Kindes aus Angst vor ihrem Partner nichts gesagt hat. Sophie Schöttler entscheidet sich, die Frau in einem Frauenhaus unterzubringen.
Selbst für Kinder in besonders problematischen Situationen ist es sehr schwierig, einen geeigneten Platz in einer Hilfeeinrichtung zu finden. So akut ist der Mangel an Plätzen in Deutschland. Das wird anhand eines besonders drastischen Falls in Gelsenkirchen deutlich.
Das Filmteam interviewt mit Oliver Esser den Sozialarbeiter, der nach dem Femizid in Schalke-Nord am 12. Juli 2024 verantwortlich ist für die Betreuung der betroffenen Kinder. Eine 20-jährige Mutter von drei Kindern wird an diesem Tag, höchstwahrscheinlich von ihrem Ehemann, erstochen. Die drei Kinder – acht Monate, zwei Jahre und drei Jahre alt – sind Zeugen. Die Polizei übergibt die Kinder dem Jugendamt.
Für die drei Geschwister geeignete Plätze in Jugendhilfeeinrichtungen zu finden, erweist sich jedoch als äußerst schwierig. Kurz nach der Tat müssen die Kinder getrennt werden, wie die ARD-Story zeigt. Zwei von ihnen werden 500 Kilometer weit nach Mecklenburg-Vorpommern gebracht, nur dort sind zu diesem Zeitpunkt noch Plätze frei. Kurz danach müssen die Kinder jedoch erneut an eine andere Stelle übermittelt werden, da sie noch intensiver betreut werden müssen. Die Suche nach einem neuen Platz beginnt
„Das ist eigentlich eine Katastrophe“, kommentiert Oliver Esser den Fall. „Die Kinder haben schon das Erlebte, das ist ja schon schlimm genug. Aber dann auch noch weitergereicht zu werden – das ist eine unglaubliche Belastung der Kinder.“ Der WDR hat im Rahmen der Filmproduktion eine Umfrage bei bundesweit 580 Jugendämtern gestartet. Aus dieser geht hervor: Aufgrund des Platzmangels mussten sogar schon 12 Prozent der Jugendämter vorübergehend Kinder im Amt übernachten lassen.
Nachdem die WAZ im Oktober über einen Brandbrief aus dem ASD Gelsenkirchen berichtet hatte, versuchte die Stadtverwaltung die dramatischen Schilderungen zunächst einzufangen. Die Sicherstellung des Schutzauftrags werde gewährleistet, betonte Jugendamtsleiter Björn Rosigkeit damals. Auch in der ARD-Dokumentation betont er, der Kinderschutz sei in Gelsenkirchen noch gewährleistet. Allerdings ist es bisweilen überraschend, wie deutlich Rosigkeit dann doch wird, wenn es um die Herausforderungen im Jugendschutz geht:
„Ich würde mir einfach gerne eine Auseinandersetzung mit der Wahrheit wünschen. Dass es prekäre Zustände gibt“, sagt er in der ARD-Story. Der Glaube, dass im Jugendamt keiner verloren gehen darf, sei „überhaupt nicht mehr existent.“ Vielmehr handele es sich gegenwärtig um einen „Überlebenskampf.“
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Rosigkeit nimmt angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Lage, die sich unter anderem durch die schrumpfenden finanziellen Mittel der Kommunen ergibt, auch kein Blatt vor dem Mund, wenn es um die Zukunftsaussichten geht: „Ich gehe stark davon aus, dass es eine große Herausforderung wird, alleine die bestehenden Angebote so aufrechterhalten zu können, wie das bislang der Fall ist“, sagt er. Bei den Fällen im Jugendamt priorisieren zu müssen, bedeute, nicht jedem sofort helfen zu können. „Und Abstriche machen zu müssen, ist natürlich total schmerzhaft. Das ist etwas, womit man lernen muss, zu leben und umzugehen“, sagt er.
„Ich empfinde die Situation als sehr belastend, sehr anstrengend“: Sätze wie diese hört man von der engagierten Sozialarbeiterin Sophie Schöttler zuhauf in der ARD-Doku. In manchen Fällen sei sie „die Vertretung der Vertretung“, doch es müsse weitergehen. Das deckt sich mit den Klagen der ASD-Mitarbeiter, welche die WAZ mehrfach dokumentiert hat.
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Doch am Ende des Films kommt auch Sophie Schöttler an ihre Grenzen. Nachdem Kollegen aus ihrem Team gekündigt oder sich über langen Zeitraum krankgemeldet haben, muss auch Schöttler eine Überlastungsanzeige einreichen. Warum sie den Job trotzdem weitermacht? „Weil ich ihn so wichtig finde.“
Sendetermine für die ARD-Story „Jugendämter in Not – Kinder in Gefahr?“: Mittwoch, 8. Januar, 22.50 Uhr; Donnerstag, 9. Januar, 3.50 Uhr. Jederzeit abrufbar in der ARD-Mediathek.
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