„Wir fühlen uns enteignet“: Gelsenkirchens Landwirte sind sauer – WAZ News


Stellv. Red.-Leiter
Gelsenkirchen. Die Stadt Gelsenkirchen arbeitet an einem neuen Landschaftsplan. Der sortiert vieles in der Stadt neu – zum Ärger der Landwirtschaft.
Künftig soll ein viel größerer Teil des Gelsenkirchener Stadtgebiets unter Naturschutz stehen. Das ist im Kern das, was durch den neuen Landschaftsplan bis 2026 erreicht werden soll. Die Pläne der Stadtverwaltung allerdings sorgen dort für Sprengstoff, wo man sich durch die Ausweitung der Schutzflächen eingeschränkt fühlt: Die örtliche Landwirtschaft ist alles andere als zufrieden, spricht gar von „Enteignung“. Woran liegt das? Und was steckt hinter den Plänen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was für den Naturschutz und die Landschaftspflege in Gelsenkirchen erforderlich sind, das soll der Landschaftsplan zeigen. Festgesetzt werden hier zum Beispiel Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebiete. „Ziel des Plans ist es, Tier- und Pflanzenwelt, Boden, Wasser, Luft und Klima zu bewahren und zu verbessern“, heißt es seitens der Stadt. Auch die Land- und Forstwirtschaft oder die Naherholung sollen allerdings hinreichend berücksichtigt werden.
Im Landschaftsplan sind zunächst die Entwicklungsziele für die Landschaft in Gelsenkirchen festgeschrieben, beispielsweise der Erhalt naturnaher Lebensräume oder die Wiederherstellung geschädigter Bereiche. Anschließend werden dann Maßnahmen zur Pflege, Entwicklung oder Erschließung der Flächen festgelegt, wie beispielsweise die Neuanlage von Kleingewässern oder Obstwiesen. „Die Festsetzungen sind ,parzellenscharf‘ und allgemein verbindlich“, betont die Stadt.
Die Stadt sagt: Nach einer „Laufzeit“ von 20 Jahren sei der aktuelle Landschaftsplan aus 2000 nicht mehr aktuell, zum Beispiel weil sich gesetzliche Vorgaben geändert hätten. Denkt man zum Beispiel daran zurück, wie wenig vor rund 25 Jahren noch über Klimaschutz geredet wurde, ist es naheliegend, dass ein damals aufgestellter Landschaftsplan nicht mehr den aktuellen Zielvorgaben entspricht. So soll der neue Plan etwa „einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Stadtentwicklung und zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ liefern.
Der Rat der Stadt hat die Verwaltung Mitte 2021 beauftragt, die Arbeit am neuen Landschaftsplan aufzunehmen. Der endgültige Beschluss ist für Anfang 2026 vorgesehen.
Der aktuelle Entwurf des neuen Landschaftsplans ist mehrere hundert Seiten lang. Für jedes relevante Gebiet ist detailliert festgehalten, was geschützt werden soll oder welche Verbote und Gebote sich dort ergeben. Allgemein lässt sich festhalten, dass die Neuaufstellung die Ausweisung von insgesamt 20 Naturschutzgebieten (bislang 19) mit einer Fläche von rund 668 Hektar vorsieht. Die Fläche der Naturschutzgebiete verdoppelt sich demnach.
So wird zum Beispiel das bestehende Naturschutzgebiet am Emscherbruch so stark ausgeweitet, dass nahezu die gesamte Waldfläche des Emscherbruchs und der Resser Mark zum geschützten Gebiet wird. „Ohne diesen Schutzstatus besteht die Gefahr, dass Waldbereiche forstlich zu stark genutzt oder nicht naturnah aufgeforstet werden“, heißt es.
Auch die Landschaftsschutzgebiete, die weniger strengen Auflagen unterliegen, sollen um etwa 300 Hektar (insgesamt rund 2710 Hektar) anwachsen. Eine Neuausweisung findet etwa am Schloss Horst oder bei Graf Bismarck statt. Die Festsetzungen schützen vor einer weiteren Bebauung.
„Wir fühlen uns ein Stück weit enteignet“, sagt Daniel Rohmann, der den Reiterhof seiner Familie in Scholven betreibt. „Die Stadt hantiert mit fremdem Eigentum und weist dort neue Schutzgebiete aus, wo wir wirtschaften“, meint er.
Konkret geht es bei Rohmann und Landwirten aus seiner Nachbarschaft um die Ausweitung des Naturschutzes am Erdbach. Durch strenge Vorlagen und Gebote würde man es erschweren, im Umfeld zu düngen oder Pflanzenschutz einzusetzen. Bei anderen Landwirten seien die Folgen noch gravierender, die große Ausweitung des Naturschutzgebietes am Emscherbruch etwa umfasst auch große Acker- und Weideflächen.
Rohmann kritisiert außerdem die bisherige Öffentlichkeitsarbeit der Stadt. Gut informiert über den Landschaftsplan fühlt er sich nicht, trotz öffentlicher Informationsveranstaltungen. Aus seiner Sicht hätte die Stadt die wenig wirklich betroffenen Menschen in Gelsenkirchen direkter, transparenter und anschaulicher über den „äußerst komplexen Plan“ informieren müssen. „Bei anderen Themen geht das doch auch.“
Die Landwirtschaft sei „berechtigterweise sehr skeptisch“, wenn es um die Ausweisung bestimmter Gebietskulissen gehe, sagt Jens Rexforth, Chef beim Kreisverband Recklinghausen des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes, der auch für Gelsenkirchen zuständig ist. „Der Grund dafür ist recht einfach: Bestimmte Einschränkungen für diese Gebiete sind bei der Neuausweisung noch gar nicht klar.“ Für die Politik sei es ein Leichtes, im Nachhinein Verordnungen für ein bestimmtes Gebiet durchzusetzen. Beispielsweise waren seit langer Zeit bestehende Naturschutzgebiete in der Landwirtschaft lange nicht eingeschränkt gewesen. Dann aber kam der „Insektenschutzpakt“ der Bundesregierung, wodurch chemischer Pflanzenschutz in den Gebieten komplett verboten wurde.
„Überall in Deutschland, auch in Gelsenkirchen, leben wir in einer Kulturlandschaft und in keiner Naturlandschaft. Die aktuelle Bewirtschaftung durch die Landwirtschaft führt dazu, dass bestimmte Tier- und Pflanzenarten sich wieder ansiedeln. Das kann kein Grund sein, bestimmte Gebiete einfach pauschal unter Naturschutz zu stellen, denn ohne ein Naturschutzgebiet ist es auch gelungen, die Natur intakt zu halten“, betont Rexforth außerdem. Bei „teilweise sehr starker Einzelbetroffenheit“ durch den Landschaftsplan müssten die Landwirte mehr in den gesamten Prozess mit einbezogen werden. „Nur das schafft Akzeptanz!“  
Öffentlich wahrnehmbar mit dem Landschaftsplan setzt sich gegenwärtig nur die Gelsenkirchener FDP auseinander. Sie ordnet den Landschaftsplan gar in die Riege der Regulierungen ein, die in den vergangenen Monaten den oft aufgeheizten „Verbotsdiskurs“ bestimmt haben: „Weniger Fleisch, Fett und Zucker, mehr Wärmepumpe, weniger Flugzeug. Und jetzt auch noch ein neuer Landschaftsplan.“ Dieser habe die hiesigen Landwirte in den letzten Wochen „verzweifeln lassen.“
„Es geht doch nicht an, dass die Menschen durch Zufall erfahren, dass die Stadt gerade dabei ist, auf ihren Grundstücken Biotope anzulegen und Streuobstwiesen einzuplanen“, schimpft FDP-Ratsherr Ralf Robert Hundt. Aus seiner Sicht hätte Verwaltung doch im Vorfeld der Veröffentlichung der Planungen auf die Besitzer zugehen müssen. Für Hundt stellt sich die Frage, was die Verwaltung konkret unternimmt, um Betroffene für ihre Maßnahmen zum Natur- und Klimaschutz zu begeistern? „Wie werden Bürger und Bürgerinnen mitgenommen?“, fragt er. „Das Ziel mag ein Gutes sein, aber hier geht es nicht nur um Klimaschutz, hier geht es auch um Eigentum, um den Kernbestand von Freiheitsrechten“, ergänzt Fraktionschefin Susanne Cichos.
„Die Stadt kennt die Bedenken der Landwirte“, sagt Stadtsprecher Martin Schulmann auf Nachfrage. Aktuell laufe die frühzeitige Beteiligung zum Landschaftsplan, dabei werde auf die „Abwägung aller Belange“ geschaut.
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Schulmann weist darauf hin, dass die Stadt in entsprechenden öffentlichen Gespräche zu dem Landschaftsplan angeboten hatte. Auch im Naturschutzbeirat, in dem die Landwirtschaft vertreten ist, sei ausführlich über den Stand des Plans informiert worden. Es soll bald aber auch noch ein weiterer Termin stattfinden, „um den Umgang der Stadt mit den eingegangenen Stellungnahmen der Landwirtschaft darzulegen.“ Im vergangenen Ausschuss für Stadtentwicklung hatten Vertreter der Verwaltung zudem betont, dass „die bestehende Nutzung von Flächen vom Landschaftsplan unberührt“ bleiben soll.
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